Inzidente Prüfung des Zonenplans im Baubewilligungsverfahren

Mit Urteil vom 12. Juli 2022 [BGer 1C_650/2020] hat das Bundesgericht entschieden, dass bei Gemeinden, die eine überdimensionierte Bauzone aufweisen, im Baubewilligungsverfahren vorfrageweise überprüft werden kann (resp. muss), ob ein unbebautes Grundstück zu Recht noch als Bauzone ausgeschieden ist.

Sachverhalt

Die Gemeinde Klosters-Serneus (GR) weist eine überdimensionierte Bauzone auf. Im Zuge einer anstehenden Bauzonenreduktion hat die Gemeinde deshalb eine Planungszone erlassen, die das gesamte Gemeindegebiet umfasste. Die Planungszone wurde schrittweise in Kraft gesetzt und bis zum 19. März 2019 wurden noch Baubewilligungen im Planungsperimeter erteilt. So etwa für die Parzellen Nr. 2055 und 4355, für deren Bebauung insgesamt drei Baugesuche eingereicht wurden.

Gegen die erteilten Baubewilligungen wurde bis vor Bundesgericht Beschwerde geführt. Insbesondere wurde gerügt, die umstrittenen Baubewilligungen seien aufzuheben, weil es sich bei den Bauparzellen um Flächen handle, welche im Rahmen der notwendigen und von der Gemeinde bereits in die Wege geleiteten Reduktion der Bauzonen wahrscheinlich ausgezont werden müssten. Die Erteilung der Baubewilligungen ohne vorgängige Anpassung der Grösse der Bauzonen widerspreche deshalb dem bundesrechtlichen Gebot, wonach überdimensionierte Bauzonen redimensioniert werden müssten (vgl. Art. 15 RPG).

Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut und hob die angefochtenen Baubewilligungen auf.

Zur Begründung hielt das Bundesgericht fest, dass eine inzidente Prüfung der allgemeinen Nutzungsplanung nur bei Vorliegen von besonderen Verhältnissen möglich sei und das Inkrafttreten der Änderung des RPG vom 15. Juni 2012 – insbesondere die Verpflichtung, überdimensionierte Bauzonen zu reduzieren – für sich alleine noch nicht als erhebliche Veränderung der Verhältnisse einzustufen, sei, welche eine vorgezogene Überprüfung der Nutzungsplanung oder eine vorfrageweise Überprüfung der Nutzungsplanung im Baubewilligungsverfahren rechtfertigen würde. Es müssen andere Umstände dazukommen, wie etwa die Lage der Parzelle in der bestehenden Bauzone, der Grad der Erschliessung oder das Alter des Plans (E. 3.3, mit weiteren Verweisen).

Im zu beurteilenden Fall lagen nach der Ansicht des Bundesgerichts solche Umstände vor: Die Gemeinde Klosters-Serneus weise nachweislich eine überdimensionierte Bauzone auf. Weiter liege die letzte Nutzungsplanungsrevision bereits lange zurück (18 Jahre) und ausserdem seien die fraglichen Bauparzellen aufgrund ihrer Lage von der übrigen Wohnzone relativ isoliert. Es wäre daher zwingend notwendig gewesen, dass die Gemeinde vor der Erteilung der Baubewilligungen hätte prüfen müssen, ob die Zuteilung der Baugrundstücke zur Wohnzone bzw. zur Bauzone mit Blick auf Art. 15 Abs. 1 und 2 RPG noch gerechtfertigt war. Ohne diese Prüfung hätte die Gemeinde keine Baubewilligungen erteilen dürfen. Dies ungeachtet dessen, ob die Baubewilligungen einer allfälligen Planungszone zuwiderlaufen oder nicht (E. 3.6.3).

Entscheid BGer 1C_368/2021

Die eben wiedergegebene Rechtsprechung bestätigte das Bundesgericht auch in einem weiteren Entscheid am 29. August 2022 (BGer 1C_368/2021), wo ebenfalls die inzidente Prüfung der Nutzungsplanung im Rahmen eines Baubewilligungsverfahrens zu beurteilen war.

Das Bundesgericht stellte erneut klar, dass eine inzidente Prüfung der Nutzungsplanung im Bau-bewilligungsverfahren nur zulässig sei, wenn die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der Pläne im Sinne von Art. 21 Abs. 2 RPG gegeben seien (E. 2.1.).

Im dortigen Verfahren wies das Bundesgericht die Beschwerde in der Folge jedoch ab. Unter anderem deshalb, weil die Nutzungsplanung den Planungshorizont von 15 Jahren gemäss Art. 15 Abs. 1 RPG noch nicht erreicht hatte und eine Reduktion des Baugebiets am Siedlungsrand möglich war (E. 2.3).

Rechtliche Einordnung

Gemäss dem revidierten Art. 15 RPG sind die Bauzonen so festzulegen, dass sie dem voraussichtlichen Bedarf für die nächsten 15 Jahre entsprechen. Überdimensionierte Bauzonen sind zu reduzieren (Art. 15 Abs. 2 RPG).

Aus diesem Grund müssen Zonenpläne regelmässig überprüft und nötigenfalls angepasst werden, wenn sich die Verhältnisse erheblich geändert haben Art. 21 Abs. 2 RPG. Diese Prüfung erfolgt in zwei Stufen: In einem ersten Schritt wird geprüft, ob sich die Verhältnisse so erheblich geändert haben, dass die Nutzungsplanung überprüft werden muss. Ist dies zu bejahen, erfolgt in einem zweiten Schritt nötigenfalls eine Plananpassung.

Folgen für die Praxis

Geht aus der kantonalen Richtplanung hervor, dass eine Gemeinde klarerweise überdimensionierte Bauzonen aufweist und ist das Baugrundstück in einer isolierten Lage oder liegt die letzte Nutzungsplanung bereits länger zurück (mehr als 15 Jahre), kann im Baubewilligungsverfahren verlangt werden, dass die Gemeinde vorfrageweise den Verbleib des Baugrundstücks in der Bauzone prüfen muss.

Für diese Prüfpflicht der Gemeinden genügt es gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung, wenn die Auszonung der Bauparzelle aus planerischer Sicht in Frage kommt resp. nicht ausgeschlossen erscheint (vgl. BGer 1C_650/2020 v. 12. Juli 2022, E. 3.6.2).

 

Download als PDF